Frankfurter Allgemeine März 2005

Frankfurter Allgemeine

Wirbelnd nach Gott streben

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Religion

Von Heiko Rehmann, Nürnberg © FAZ / Gottschalk

 

Alles ist Liebe, alles ist eins. Sich drehend, erkennt der Derwisch Gott. Im Wirbeltanz verliert er sein Ich, um die Einheit zu finden. Unbeweglich steht der Meister auf der Grenze zwischen dieser Welt und der anderen. Vor mehr als 700 Jahren schuf Mevlana Celalettin Rumi (1207 bis 1273) den Orden der Tanzenden Derwische und eine Philosophie der Liebe, welche die Menschen bis heute fasziniert – seit einigen Jahren auch in Deutschland.

 

Nürnberg, ein Versammlungsraum irgendwo in einem Hinterhof. Kerzen brennen, still und konzentriert sind die Derwische. Einige stammen aus der Türkei, die meisten jedoch aus der deutschen Sinnsucherecke. Ingenieure, Hausfrauen, Werbeprofis oder Studenten der Religionswissenschaft fasziniert das uralte Ritual. Die wenigsten sind Muslime. Frauen und Männer tanzen gemeinsam. Anders als in den traditionellen Orden ist hier jeder willkommen. Auf dem Kopf tragen sie den zylinderförmigen Filzhut, Sikke genannt, Symbol des Grabsteins, um den Körper den schwarzen Umhang, Khirka, ein Symbol des Grabes. In der göttlichen Liebe gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Diesseits und Jenseits. Der Derwisch integriert den Tod in sein Leben.

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Ein Symbol der Liebe des Menschen zu Gott

Der Sufismus, die islamische Mystik, steht im 13. Jahrhundert in voller Blüte. Derwische, die nach Einheit suchenden Wandermönche, ziehen in Scharen durch die Länder des Nahen Ostens. In Konya, der Hauptstadt des Reiches der Rum Seldschuken, lehrt Mevlana Rumi an einer theologischen Hochschule. Zur entscheidenden Wende seines Lebens wird die Begegnung mit dem wandernden Derwisch Schamseddin von Täbris 1244, der das Feuer seines Herzens entzündet. Als Schamseddin einige Jahre später spurlos verschwindet – vermutlich wurde er ermordet -, macht der Schmerz Rumi zum Dichter, dem bedeutendsten der persischen Mystik überhaupt. In unzähligen Versen besingt er die Liebe zu seinem spirituellen Lehrer und schafft damit ein Symbol der Liebe des Menschen zu Gott. Während der traditionelle Islam eine Gesetzesreligion ist, die das Leben durch Gebote und Verbote regelt, ist bei Rumi der Kern des Glaubens die Liebe, die keiner Gesetze bedarf: „König, Dieb, Heiliger, Verrückter – Die Liebe packt uns alle beim Genick / Und schleift uns Zappelnde zu Gott / Auf manchem Schleichweg… / Wie hätte ich’s jemals ahnen können, / Daß sich auch Gott nach uns verzehrt?”

 

Im Menschen ist die Seele getrennt vom göttlichen Ganzen, das Leben ein Exil. Der Derwisch sehnt sich nach der Rückkehr zur Einheit, nach der Umwandlung des rohen Menschen in ein lebendiges Werkzeug Gottes. Der Weg dorthin führt über die hingebungsvolle Liebe, die sich auch in der irdischen Schönheit zeigt. Musik und Tanz sind die Mittel dazu, mehr noch als in anderen Orden. 1925 ließ Kemal Atatürk, der Gründer der Republik, alle Sufi-Orden verbieten, um die Europäisierung der Türkei durchzusetzen. Im stillen lebte die Tradition jedoch fort, um seit einigen Jahrzehnten eine Renaissance in der türkisch-arabischen Welt und zunehmendes Interesse auch im Westen zu erfahren.

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Mystik, Harmonik und Musik

Vor 30 Jahren reiste Wolf Bahn nach Konya. Am Grab Mevlana Rumis habe er den Ruf seiner Seele gespürt. Noch am selben Tag begegnete Bahn zufällig seinem künftigen Lehrer, Scheich genannt, den er fortan zwölf Jahre lang immer wieder besuchte. Inzwischen ist der ehemals katholische Österreicher zum Islam übergetreten, nennt sich Suleyman und ist selbst ein Scheich – der einzige in Deutschland, einer von zehn auf der ganzen Welt. In Nürnberg lehrt Bahn seit einigen Jahren den „Sema”, den von Rumi inspirierten Drehtanz und „mystischen Reigen”.

 

Eine imaginierte Linie teilt den Tanzraum in zwei Hälften, die geistige und die materielle Sphäre. In beiden zugleich versucht der Derwisch zu leben. Am Ende des Raumes, genau in der Mitte zwischen den Welten, steht der Scheich, würdevoll und unbeweglich in seinem heiligen Ernst. Die Derwische knien am Rand der Tanzfläche tief in sich versunken und küssen die Erde als Zeichen der Liebe und des Respekts. In der Schlichtheit des Moments lebt die Größe des Rituals. Mit einem Loblied auf den Propheten Mohammed und Mevlana Rumi beginnt das Sema. „O du von Gott Geliebter, der Bote des einzigen Schöpfers bist du”, füllt die Stimme des Sängers den Raum in der eigenartig chromatischen Harmonik und klagenden Melodik der orientalischen Musik mit ihren komplexen Modi. Ein Trommelschlag, und alle werfen sich zu Boden – Symbol des Erwachens aus dem Schlaf der Welt. Mystische Klänge, orientalisch und geheimnisvoll, dringen aus der Laute Ud, dem Rebab genannten Monocord und der persischen Rohrflöte Ney, Symbol des reinen Menschen, durch den der Atem Gottes strömt. In der Musik drückt sich die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit der göttlichen Liebe aus. „Hör auf die Flöte – wie sie erzählt, wie sie klagt über Trennung und spricht: Wer weit entfernt von seinem Ursprung ist, der sehnt sich zurück nach der Zeit der Einheit.”

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Gott offenbart sich

Mit diesen Versen beginnt das „Mesnevi”, das mystische Versepos Mevlana Rumis, sein bekanntestes Werk. Dreimal umschreiten die Derwische die Tanzfläche, dreifach erkennt der Derwisch Gott – im Studium der Schriften, in der Natur, in der Liebe. Dann werfen sie den schwarzen Umhang von sich, wiedergeboren in der Wahrheit. Darunter tragen sie die Tennure, ein weißes Kleid – Leichentuch des Ego und Auferstehungssymbol zugleich. Wie Planeten beginnen sie, sich um ihre eigene Achse zu drehen und dabei gleichzeitig im Kreis durch den Raum zu wandern, den Kopf leicht nach rechts geneigt, die Augen halb geschlossen, der rechte Arm zum Himmel geöffnet, der linke zur Erde. Von Gott nimmt der Sufi, der Erde gibt er. Die gesamte Schöpfung, Planeten und Sterne, alle Lebewesen, kreisen umeinander. Drehend offenbart sich Gott, drehend erkennt ihn der Derwisch. Möglicherweise war Rumi bei der Vorstellung der Kreisbewegung des Universums sogar vom heliozentrischen Weltbild der antiken Astronomen Aristarch von Samos und Hekataios von Milet beeinflußt. In vier Abschnitten stellt der Drehtanz das Sich-Verlieben in Gott dar, die gesteigerte Liebe, das Verbrennen in der Liebe und die Rückkehr zur Erde. Gegen Ende verläßt der Scheich seine unbewegliche Position und dreht sich in die Mitte des Kreises. Dort öffnet er seine Khirka und gibt den Blick zum Herzen frei, Symbol der Einheit. Mit einem Schlußgebet endet die Zeremonie.

 

Im Sema hat Rumi nicht nur ein Symbol seiner Lehre geschaffen, sondern zugleich einen Weg zur höchsten Einheit gewiesen. Verstand, Herz und Körper führt es zusammen. Das Verschwinden des Selbst in der All-Einheit, wie es die Mystiker aller Weltreligionen beschrieben haben, erfahren die Mevlevis im Sema. „Beim Tanz nimmt man nichts mehr wahr”, berichtet Ulrich Riedel, der den Weg des Derwischs seit zwei Jahren geht. „Nicht du bist es, der sich dreht. Das Ego fliegt davon.” In der immergleichen Wiederholung derselben Drehbewegung, gesteigert durch den monotonen Rhythmus der Musik, fallen die Derwische in einen Zustand des Rauschs, der Ekstase, obwohl diese nicht das eigentliche Ziel ist, wie Suleyman Bahn erklärt. „Das Ziel ist die Erkenntnis der Einheit Gottes mit der Welt, die wir mit der Hilfe von Trance und Ekstase gewinnen können.”

 

Text: F.A.Z., 10.03.2005, Nr. 58 / Seite 9